Vom Wert des Wissens
Weder ist die Wissensgesellschaft ein Novum noch löst sie die Industriegesellschaft ab. Eher noch läßt sich diagnostizieren, daß die zahlreichen Reformen des Bildungswesens auf eine Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens abzielen, womit die Vorstellungen klassischer Bildungstheorien geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.
Der flexible Mensch, der, lebenslang lernbereit, seine kognitiven Fähigkeiten den sich rasch wandelnden Märkten zur Disposition stellt, ist nicht einmal mehr eine Karikatur des humanistisch Gebildeten […], sondern dessen krasses Gegenteil. Bei allem, was Menschen heute wissen müssen und wissen können – und das ist nicht wenig! – fehlt diesem Wissen jede synthestisierende Kraft. Es bleibt, was es sein soll: Stückwerk – rasch herstellbar, schnell anzueignen und leicht wieder zu vergessen.
Konrad Paul Liessman
Aus: „Theorie der Unbildung“ (2006)
Im Zeitalter des Internets hat Wissen nicht mehr den selben Stellenwert wie früher: Wenn Wissen jederzeit verfügbar ist, dann ist es nichts mehr wert. Wenn Wissen sich jederzeit angoogeln lässt, ist es nützlich – aber vollkommen sinnlos, welches zu haben. Wenn Wissen keine Anstrengung, keine Mühe, keinen Schweiss mehr kostet, ist es immer und stets parat; nur einen Klick weit entfernt.
Es ist lange und nicht lange her, da war Wissen einmal Macht. Doch Macht ist keine Macht mehr, wenn jeder sie hat. Wenn Wissen allgegenwärtig, allzeit verfügbar, allzeit verbiegbar ist, dann ist Wissen keine Macht, sondern Unterhaltung. Ein Spass für die Gameshow. Das richtige Kreuzchen am richtigen Ort und zur rechten Zeit – so macht Wissen Freude statt Mühe. Verständnis ist nicht länger gefragt – nur auf die richtigen Stichworte kommt es an. Auf das korrekte Branding. Und auf den korrekten Stallgeruch, die richtige Ideologie, auf die Massentauglichkeit.
Das einsame Genie, das seiner Zeit voraus ist? Ist aus der Zeit gefallen. In einen riesigen Topf Wissenssuppe, den jedermann auszulöffeln hat. Wem die Suppe nicht schmeckt – der hat Pech gehabt. Denn ein alternatives Menü ist teuer. Wer ein solches partout haben will, der zahlt einen hohen Preis dafür.
Wissen, so wie es heute verlangt und verhandelt und verkauft wird, verursacht keine Übelkeit mehr, keine Bauchschmerzen, kein Magengrimmen und keine Trostlosigkeit. Wissen wird heute von jedermann an jedermann in einer Weise verabreicht, dass es leicht verdaulich, süsslich, schleimig und in jedem Fall ohne Nebenwirkungen ist. Aufstossen, aufmerken, aufmucken, nachfragen, nachhaken, anzweifeln und bezweifeln – auch und gerade radikal zweifeln im Sinne Descartes – all das, was früher nicht etwa die Begleiterscheinung, sondern vielmehr die Grundvoraussetzung war für eine jede Annäherung an diese grosse, graue Masse, die später vielleicht einmal Wissen genannt werden könnte – ist heute nicht mehr erwünscht. Denn es gilt als mühsam. Als kompliziert. Als rebellisch. Als unsexy. Wir wissen alles, wir können alles. Wer nicht alles weiss – oder vielmehr theoretisch alles wissen könnte -, der war halt zu langsam oder zu faul, um zu googeln.
Wissen wird heute nicht mehr mühsam erarbeitet, sondern ist einfach und immer und jederzeit schon da. In einem totalen System gibt es keine Fragen mehr, sondern nur noch Antworten – und zwar eindeutige, die über jeden Zweifel erhaben sind. Wissen wird nicht länger aufgebaut, sondern verflüssigt. Wissen wird in unserer weiten, in der weltweiten Welt nicht vorbereitet, sondern implementiert. Wissen hat keine Ebenen mehr – es wirft Schatten. Flache Schatten. Keine Räumlichkeit. Keine dritte Dimension. Kein Hintergrund, nur Fläche. Wissen nimmt keinen Platz mehr ein, denn es passt auf eine Stecknadel. Wissen braucht nicht länger einen festen Ort. Es ist ohne Ort. Es ist Utopie.
Wissen entsteht heute nicht mehr aus Zweifel, der in den Ohren piekst, sondern ruht sich aus auf Gewissheit, weich wie Watte. Diese Art Wissen stellt kein Risiko dar – es ist die totale Sicherheit. Wissen ist nicht mehr gefährlich, sondern komfortabel. Das Wissen, das in dieser Weise Wissen genannt wird, kommt von nirgendwo her. Es geht auch nirgendwo hin. Es taucht auf und verschwindet. Es war da, und ist schon wieder weg. Wenn Wissen aber kein Fundament hat, keine Herkunft, keine Zukunft und keine Geschichte, ist es kein Wissen mehr, sondern Luft.
Luft und Nebel.
Curriculum Vitae
Jahrgang 1970
- Ausbildung als Übersetzerin
- Weiterbildung als Grafikerin
- Ausbildung als Tageszeitungs-Redaktorin
- Tätigkeit als Auslandskorrespondentin
- Freie Journalistin, unter anderem für den Berliner Tagesspiegel und die dpa (Deutsche Presseagentur)
- Studium Philosophie und Neuere deutsche Literaturwissenschaft; Abschluss mit Magister in Philosophie (M.A./Lizentiat/Master)
- Philosophische Schwerpunkte:
Dekonstruktion, Phänomenologie, Tierethik/Tierphilosophie - Pädagogisches Zweitstudium: Höheres Lehramt für Deutsch und Philosophie; Master of Advanced Studies in Secondary and Higher Education (MAS SHE)
Sehet die Täublein… sie lernen!
Wie lernen Vögel? Diese Tauben haben gelernt, dass es bei mir im Garten, an diesem Vogelhäuschen Futter gibt (meistens). Wenn ich aufhöre, sie zu füttern, lernen sie, dass es kein Futter mehr gibt, und sie nicht mehr vorbeikommen müssen.
Haben wir irgendeine Ahnung, wie Vögel lernen? Wie Vögel „wissen“, was sie wissen? Nein.
Haben wir irgendeine Ahnung, wie Menschen lernen? Wie Menschen „wissen“, was sie wissen? Nein.
Wir wissen bei den Vögeln wie bei den Menschen nur dies: Sie tun es. Sie lernen. Sie können lernen. Und sie müssen lernen, um zu überleben. Leben heisst lernen und lernen heisst leben.
Sie können mit dem Tier, der real genannten Katze als Tier, reden, aber es antwortet nicht, nicht wirklich, niemals […]
Jaques Derrida
Bewegung oder Stillstand
Fotografiert am Bodensee, Schweizer Seite
Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat auch Religion;
wer jene beiden nicht besitzt,
der habe Religion.Johann Wolfgang von Goethe
Zum Unterschied zwischen Philosophie und Religion
Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass Religion und Philosophie als weitgehend deckungsgleich aufgefasst werden. Dieses Missverständnis beruht im Wesentlichen auf zwei Punkten:
1. die gemeinsame Geschichte von Philosophie und Religion bzw. Theologie sowie
2. die stellenweise Überschneidung der Themen bzw. Inhalte.
Vorab einige Begriffsklärungen: Unter Glaube verstehe ich die Annahme, es gebe eine transzendentale Entität, sei diese Vorstellung deistischen Inhalts oder nicht. Unter Religion verstehe ich den institutionalisierten Glauben an diese transzendentale Entität. Theologie (bzw. Religionswissenschaft, um auch atheistische Religionen einzubeziehen) wiederum ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit menschlichen Phänomenen wie Religion und Glauben.
Zu 1: Die gemeinsame Geschichte von Philosophie und Theologie ist unbestritten, sie reicht jedoch nicht weiter als dies auch bei der Philosophie und allen anderen Einzelwissenschaften der Fall ist. Die Philosophie, wörtlich: Liebe zur Weisheit, ist historisch betrachtet nicht eine Disziplin unter vielen, sondern sie ist die Mutter aller Wissenschaften, die Ur-Wissenschaft an sich. Mindestens bis zum Rationalismus, d.h. zum Beginn der Neuzeit, und letztlich bis ins 19. Jahrhundert, in dem es zur endgültigen Aufspaltung der Philosophie in Einzelwissenschaften kam, wurde unter dem Mantel der Philosophie schlichtweg alles verhandelt, was Menschen jemals erdacht, gedacht und bedacht haben – ganz egal, ob dies nun (später genannt) Psychologie, Biologie, Zoologie oder Astronomie und so weiter und so fort war.
Hinzu kommt, dass unter den Philosophen, heute würde man besser sagen: Universalgelehrten, lange Zeit nahezu ausschliesslich Angehörige des Klerus waren – ganz einfach deshalb, weil nur sie Zugang zu Bildung und Schrift hatten, so dass es aus heutiger Sicht so scheint, als seien Philosophie und Theologie auch der Sache nach ineinszusetzen – statt nur der historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach.
Tatsächlich gab es jedoch zu allen Zeiten Philosophen, welche die Weisheit liebten, ohne dabei religiös oder theologisch motiviert zu sein. Insbesondere im Zuge der Aufklärung gab es sogar zunehmend Denker, die es mit der „Liebe zur Weisheit“ für überhaupt unvereinbar hielten, an eine transzendentale (1) Entität zu glauben – die also einen Hiatus zwischen Mythos und Logos lokalisierten und dies immer vehementer problematisierten. Spätestens mit der bereits erwähnten Abspaltung in Einzelwissenschaften kam es im Gefolge zur auch formalen, grundlegenden Geschiedenheit von Theologie und Philosophie, und diese ist bis heute der Status quo.
Zu 2: Partielle inhaltliche Überschneidungen zwischen Religion bzw. Theologie und Philosophie sind nicht von der Hand zu weisen, finden sich jedoch in gleicher Weise auch in der Nähe der Philosophie zu anderen Einzelwissenschaften, die aus ihr entstanden sind, wie zum Beispiel Politik(-wissenschaften), Soziologie, Psychologie, Astronomie (Kosmologie), Physik, Biologie und neuerdings zunehmend auch Ethologie und Zoologie.
Eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und Religion bzw. Theologie wird gemeinhin darin verortet, dass sich beide Disziplinen mit den sogenannten grossen Fragen der Menschheit (2) befassen. An diesem Punkt komme ich nun zum Kern meiner Überlegungen: Tatsächlich befassen sich beide Disziplinen zum Teil mit denselben bzw. ähnlichen Fragen, dies ist jedoch nicht das Entscheidende: Die grundlegende Geschiedenheit von Religion und Philosophie liegt nämlich keineswegs in den Fragen oder Themen begründet, sondern vielmehr einzig und allein in der Art ihrer Antworten darauf.
Ich möchte dies näher ausführen: Es gibt seit Längerem eine teils heftige Debatte darüber, ob es eine religiöse und eine säkularisierte Vernunft gibt bzw. ob gläubige Menschen überhaupt für sich in Anspruch nehmen können, „vernünftig“ zu denken (denken zu können), damit gemeint ist in diesem Fall nicht „mystisch“, sondern „rein rational“ zu denken. (3)
Aus meiner Sicht geht diese Debatte jedoch am Kern des Problems vorbei: Seit dem französischen Poststrukturalismus wurde der philosophische Diskurs um einen grundlegenden Aspekt bereichert: nämlich um die fundamentale Kritik am Logozentrismus (4) – für viele Diskursteilnehmer war und ist das bis heute ein Affront, greift diese grundlegende Absage doch ins Zentrum dessen, was für die meisten Menschen das Menschsein ausmacht: nämlich die vollumfängliche Teilhabe des Menschen am Logos, dies in Abwertung zum angeblich rein triebhaften Tier. Ein entsprechend hohes Mass an Verzweiflung, Scham, gekränkter Eitelkeit und Tabuisierungsversuchen umgibt durch alle Jahrhunderte hindurch die so verschmähten, nichtsdestoweniger aber vorhandenen sogenannten, „tierischen“ Anteile des Menschen.
Dies jedoch nur am Rande. Für den vorliegenden Zusammenhang ist Folgendes von Bedeutung: Ob und wie und unter welchen Bedingungen der Mensch vernunftbegabt ist bzw. genauer gesagt: ob und wie und unter welchen Bedingungen den Menschen überhaupt eine so genannt „rein rationale“ Erfahrbarkeit oder auch nur Wahrnehmung der Welt gegeben oder möglich werden könnte, steht immer noch und sogar mehr denn je zur Verhandlung. (Von den Dekonstruktivisten wird dies rundheraus bestritten.)
Die Pointe dabei ist, dass diese Vernunftskepsis gleichermassen für gläubige wie für nichtgläubige Menschen gilt. Das bedeutet: Über die angeblich „unüberwindbare“ Kluft zwischen atheistischen „Vernünftigen“ und religiösen „Un-Vernünftigen“, zwischen Wissenschaft und Glauben, zwischen Logos und Mythos muss, kann und braucht in keiner Weise gestritten werden – denn diese Kluft existiert schlichtweg nicht. Der Logos an sich – genauer gesagt: der Glaube an den Logos – ist vielmehr selbst der Mythos – und zwar der wirkmächtigste überhaupt.
Dies vorausgesetzt, wird der Blick frei dafür, weshalb die Geschiedenheit von Religion bzw. Theologie und Philosophie nicht in der Wahl der Themen bzw. Fragestellungen begründet liegt, sondern vielmehr in der Art der Antworten: Eine atheistische oder agnostische Herangehensweise an die sogenannten grossen Fragen der Menschheit ist wie gesagt per se nicht „vernünftiger“ oder „weniger vernünftig“ als eine religiös motivierte. Sie basieren jedoch auf fundamental unterschiedlichen Annahmen – was zu entsprechend fundamental unterschiedlichen Antworten und Herangehensweisen führt.
Wir hatten eingangs gesagt, dass Glaube die Annahme einer transzendentalen Entität beinhaltet und die Religion die Institutionalisierung des Glaubens ist. Diese Annahme kann, muss aber keineswegs deistisch sein, um folgende wesentlichen Funktionen von Glauben sowie der Institution Religion zu erfüllen: Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz an sich, Sinngebung für den Einzelnen – und dies bedeutet: die Vorstellung einer Aufgehobenheit in einer universalen Struktur, Ordnung, Regelhaftigkeit. Wohingegen sich eine Welt ohne diese Annahme durch das Gegenteil auszeichnet: durch Chaos, Zufall und Sinnlosigkeit.
Von Hannah Arendt stammt der Ausdruck „Denken ohne Geländer“. Denken ohne metaphysisches Geländer meint, auf diese Vorstellung einer Aufgehobenheit und Sinnhaftigkeit in kategorischer Weise zu verzichten – ein radikaler und folgenschwerer Verzicht, der über den religiösen Zweifel in ganz grundlegender Weise hinausgeht.
Es liegt auf der Hand, dass von einem solchen Standpunkt aus in ganz entscheidender Weise anders gedacht werden kann und werden muss als dies der traditionelle Blickpunkt je einfordern könnte. Metaphysikfreies Denken ermöglicht Denkräume, die teils weiter, teils (aus religiöser Sicht) enger, teils versteckt, teils gänzlich unauffindbar und so gut wie immer widersprüchlich, ungeklärt und instabil sind.
Wahrheit, Ewigkeit, Fatum, Determination (für den Einzelnen) und Eschatologie für das Schicksal der Menschheit sind nicht zu haben – die Leibnizsche Vorstellung von der besten aller möglichen Welten zerrinnt in den Händen, je radikaler nachgedacht wird. Und radikal kann dem Wortsinn nach nur dann nachgedacht werden, wenn auf den Grund und Boden, auf die Wurzel (radix) verzichtet wird – wenn dies zumindest versucht wird.
Auf eben diesen ernsthaften Versuch aus dem, kantisch gesprochen, „dogmatischen Schlummer“ zu erwachen, kommt es an, und zwar gilt dies unabhängig von der selbstredend vorliegenden Aporie, die dem Satz „Es gibt keine absolute Wahrheit“ anhaftet, indem er ja in sich den Anspruch trägt, es gebe doch eine absolute Wahrheit (5) Es kommt auf die Ernsthaftigkeit des Versuchs an, den gewohnten, scheinbar sicheren Denkboden verlassen zu wollen – nicht auf die widerspruchsfreie Verwirklichung und Vollendung des Unterfangens.
Solche Aporien sind insbesondere in der Sprachphilosophie bzw. Sprachkritik hinreichend bekannt. Auch hier ist die Richtigkeit der Überlegung vom Auftreten einer Aporie unberührt, sofern dieser Widerspruch nicht übersehen, sondern thematisiert wird. Eben dieser denkerische Bodenverlust, diese Ent-wurzelung aus der Sinnhaftigkeit und Aufgehobenheit verunsichert in einer Weise, die von den meisten Menschen kaum ausgehalten wird. Philosophie bedeutet für mich jedoch genau dies: die Unsicherheit aushalten. Der Verlockung vermeintlicher Sicherheiten widerstehen. Sich um Sicherheit in der Unsicherheit zu bemühen – gerade indem die allgegenwärtige Unsicherheit erkannt und anerkannt wird. Egal wie fruchtbar oder konstruktiv – geschweige denn tröstlich und sinnstiftend – dieser Weg auch sein mag: Entscheidend ist, dass nur so bis an die Grenzen des menschlichen Verstands gedacht werden kann – und dies ist nötig, denn die Grenzen des menschlichen Verstands sind weit enger gesteckt als dies gemeinhin wahrgenommen wird. Und in eben dieser typisch menschlichen Selbstüberschätzung wurzelt viel, wenn nicht gar alles Elend der Welt.
Ich denke, es erhellt nun, weshalb ich ein gemeinsames Unterrichten sowohl von Religion und Philosophie als auch der Fachdidaktik in beiden Disziplinen für wenig hilfreich erachte: Zu grundlegend unterschiedlich sind die Denkumgebungen und -untergründe, auf deren Basis – ob vernünftig oder nicht, tut wenig zur Sache – nachgedacht wird.
Auf diese Weise erhellt, weshalb der Versuch einer Verständigung zwischen Religion und Philosophie in ganz grundlegender Weise von Missverständnissen geprägt ist. Denn es werden Überlegungen von Seiten der Religion allzu schnell und allzu oft als Wertungen eingestuft und mit Kritik verwechselt, wo doch lediglich analysiert, nicht ideologisiert wird. Wenn Glaube dogmatisch gefasst wird, kann der Versuch eines ideologiefreies Denken nicht anders als ebenso dogmatisch aufgefasst werden. Hinzu kommt, dass sich das Denken ganz allgemein aufgrund erheblicher politischer, religiöser und kultureller Konflikte (genauer: einer Verschränkung von all dem) immer stärker in ein Pro- und Contra-Denken verwandelt, in eine Lagerhaltung und Lagerhaftigkeit, welche eine Position des Dazwischen, eine abwägende Einerseits-Andererseits-Grundhaltung verunmöglichen. Stattdessen kommt es zu Reflexen, zu Ping-Pong-Effekten zwischen (vermeintlichen) Polen.
Dem gegenüber steht zurückgedrängt die alternative Denkmöglichkeit, nämlich weder dem einen noch dem anderen Lager anzugehören, weder an den Glauben zu glauben noch an die Religion noch an die Vernunft noch an die Wissenschaft, also das Maximum an Unsicherheit aushalten zu müssen – in einer Welt, die immer unsicherer wird. Und die deshalb nach immer mehr statt weniger Sicherheit im Denken ruft.
Zusammenfassend möchte ich konstruktiv schliessen: Die Kluft zwischen Religion und Philosophie besteht, allerdings nicht in Bezug auf die Frage nach der Vernunftfähigkeit, sondern in Bezug auf das Denkklima und die Denkumgebung, also den Boden, auf dem die Antworten gesucht und gegeben werden. Die Kluft ist insofern noch wesentlich grösser als gedacht, denn es könnte wohl keinen grösseren Unterschied geben zwischen Denkräumen, die grundlegend alles in Zweifel zu ziehen – bis hin zum Boden, auf dem gedacht wird – und den althergebrachten Denkmustern, die keine Räume sind, sondern überhaupt nur Boden bilden; die also dergestalt selbstreferenzielle, man kann sagen: zirkelhafte Denksysteme sind, indem sie den Erhalt, die Sicherheit und die Stabilität des Systems selbst zum Ziel und Zweck haben. Während auf der einen Seite also die Ordnung (5) verwaltet und verteidigt und damit gefestigt wird, hat die andere Seite zum Ziel, die Ordnung(en) im Kern aufzulösen, ihnen ihre Legitimation zu entziehen, um danach vielleicht eine neue Ordnung, bestenfalls aber gar keine Ordnung zu setzen.
Eine Verständigung über all dies ist möglich – jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sowohl die Fähigkeit als auch die Bereitschaft zum Denken ohne Geländer gegeben ist, und ein Diskurs auf der Metaebene nicht als zufälliges Nebenprodukt, sondern als eigentlicher Sinn und Zweck der Übung betrachtet wird. Weil das geländerfreie Denken jedoch eine Bedrohung für jegliche Ordnungen darstellt, während gleichzeitig eine allumfassende Sehnsucht nach Ordnungen vorherrscht, ist ein solches Denken so überaus selten.
Fussnoten
(1) Ich verwende den Begriff Transzendenz hier nicht im kantischen Sinn, sondern in der ursprünglichen Bedeutung der Weltjenseitigkeit.
(2) Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was ist der Sinn des Lebens etc.
(3) Vgl. dazu u.a. die entsprechenden Schriften von Jürgen Habermas, Charles Taylor sowie Bertrand Russell und Kurt Flasch (beide unter dem Titel „Warum ich kein Christ bin“) sowie Gert Scobel: Der Ausweg aus dem Fliegenglas. Wie wir Glauben und Vernunft in Einklang bringen können (Frankfurt a.M. 2010).
(4) So insbesondere bei Jacques Derrida.
(5) Vgl. den Begriff der Ordnung bei Bernhard Waldenfels.
Netzwerk
Schweizer Spinne. Fotografiert auf 1000 Meter Höhe.
Sie möchten sich gerne mit Gleichgesinnten über zeitgenössische oder klassische Literatur austauschen, hätten dabei aber gerne eine fachkundige Moderation? Sie würden gerne in das weite Feld der Philosophie eintauchen, am liebsten im Austausch mit Anderen, und gemeinsam über aktuelle und zeitlose philosophische Fragen diskutieren – wissen aber einfach nicht, wo anfangen und wie sich orientieren im Land der Dichter_Innen und Denker_Innen?
Ich moderiere Ihren Literatur- und/oder Philosophiezirkel – kompetent, engagiert und flexibel.
Strandgut
Angeschwemmt auf Juist – Fisch wie Mensch.
Gibt es eine Grenze zwischen Mensch und Tier? Wer legt diese fest? Warum haben Menschen Rechte – Tiere aber nicht? Dürfen wir Tiere essen? Wenn ja: warum? Wenn nein: Warum nicht? Wer bestimmt, was erlaubt ist und was nicht, was natürlich ist und was nicht, was selbstverständlich ist – und was totaler Blödsinn? Sind Veganer Spinner? Oder nicht doch die Fleischesser?
Diese Fragen streifen das noch sehr junge, aber doch bereits sehr weite Feld der Human Animal Studies nur ganz am Rande. Ich beschäftige mich seit Jahren mit tierphilosophischen Fragen, habe meine Magisterarbeit zu diesem Thema geschrieben, und arbeite derzeit an einem Buch über Tierethik.
Blaue Nesselqualle, leicht giftig
Fotografiert auf Juist.
Am Billriff
Das Westende von Juist.
Meine philosophischen Workshops:
- sind für jedermann und jederfrau geeignet
- leben davon, dass die Teilnehmer_Innen nicht nur fragen dürfen, sondern fragen sollen
- liefern keine Lösung gratis frei Haus, sondern eröffnen individuelle Denkwege
- werden Sie überraschen
Wunderwolle
Im November 2014 habe ich das Label Wunderwolle gegründet – ein Shop für tierfreundliche, ökologische, von mir handgefärbte Wolle.
Viele Menschen halten Wolle für eines der natürlichsten Produkte überhaupt, und glauben, dass Wolle sozusagen „von Haus“ aus biologisch und tierfreundlich ist – schliesslich muss das Schaf für die Schur ja nicht getötet werden. Die Realität ist leider anders: Ein Grossteil der Wolle, die wir hier im Handel kaufen können – und zwar auch die Wolle von Schweizer oder deutschen Herstellern – stammt keineswegs aus dem eigenen Land, sondern wird in Südamerika, Asien, Australien oder Neuseeland eingekauft und zum grossen Teil auch in diesen Ländern verarbeitet. Kaum jemand weiss, dass nur ein Bruchteil der Schweizer Wolle für Strickwolle verwendet wird; das meiste wird unter anderem für Dämmmaterial und Dünger verwendet – und jährlich werden rund 150 000 Kilogramm Schweizer Wolle entsorgt oder verbrannt, denn die Konkurrenz und der Preisdruck aus Übersee sind so gross, dass sich das Scheren und Waschen hierzulande nicht mehr lohnt.
Wo es aber nur um Masse und Profit geht, bleiben die Schwächsten auf der Strecke, und das sind in diesem Fall die Umwelt, die Angestellten – und nicht zuletzt die Tiere. In Australien, dem Hauptimportland und Weltmarktführer im Bereich Wolle – insbesondere bei der als besonders hochwertig geltenden Merinowolle – ist eine schlimme Form der Tierquälerei an der Tagesordnung: Das sogenannte Mulesing, benannt nach dem Schafzüchter John Mules, ist eine sehr schmerzhafte Prozedur, die angewendet wird, um Fliegenmadenbefall zu verhindern. Den Lämmern wird dabei ein grossflächiger Bereich am Hinterteil bis aufs Fleisch blutig ausgeschnitten. Der Grund: Durch die Vernarbung wächst an dieser Stelle kein Fell mehr. Die grausame Prozedur findet ohne Betäubung statt, denn dies wäre zu aufwendig und zu teuer. Hinzu kommt, dass die Tiere dort häufig in einer regelrechten Massentierhaltung gehalten werden, und dann, wenn sie zur Wollproduktion nicht mehr „taugen“ oft tagelang unter grausamen Bedingungen verschifft werden, um geschlachtet zu werden. Mittlerweile gibt es zum Teil auch Wolle aus diesen Ländern, bei deren Herstellung auf Mulesing verzichtet wurde, doch für den Grossteil der Wolle, die wir im Handel kaufen können, gilt dies leider nicht.
Der Verbraucher ahnt davon nichts, denn anders als bei Lebensmitteln gibt es bei Wolle keine Deklarationspflicht. Entsprechend gibt es noch keinerlei Bewusstsein dafür, dass in diesem Bereich vieles im Argen liegt – die Verbraucher stehen dem Ganzen ahnungs- und machtlos gegenüber. Als ich 2014 von diesen schlimmen Zuständen erfahren habe, war es für mich als Hobby-Strickerin nahezu unmöglich, Wolle zu finden, bei der die Herkunft nachvollziehbar ist. Nachdem ich bereits drauf und dran war, das Stricken aufzugeben, habe ich mich entschieden, das Heft selbst in die Hand zu nehmen, und habe kurzerhand die Firma Wunderwolle gegründet.
Wunderwolle hat ein ganz einfaches, aber bislang absolut einzigartiges Konzept: Ich verkaufe ausschliesslich Wolle, die tierfreundlich, ökologisch und fair hergestellt wird. Es war ausgesprochen mühsam, Hersteller zu finden, die transparent und ethisch vertretbar sind hinsichtlich der Herstellungsbedingungen ihrer Wolle. Mit grossem Aufwand habe ich schliesslich zwei deutsche Hersteller gefunden, die mich überzeugt haben. Jeder Strang wird von mir einzeln von Hand gefärbt und online vertrieben über meinen Shop auf www.wunderwolle.ch
Blühfreude
Inseln Brissago, Lago Maggiore.
„Musik macht das Unaussprechliche hörbar.“
Hier geht es zur Musik-Seite meines Mannes, Hanspeter Biedermann: www.montuno.ch
Das Ende einer langen Reise
Angeschwemmter Wal-Kadaver, 2012, ca. 8 Meter lang, auf Juist, am Kalfamer; das Tier stammt vermutlich aus Norwegen. Todesursache: Schiffsschraube, Walfänger oder natürlicher Tod.
Tiger-Lilly
Speckstein-Skulptur; ca. 15 cm gross.
Meine Vorträge können lang sein oder kurz, einführend oder ausführlich, es kann um Tierethik gehen, um Philosophie allgemein, um Ingeborg Bachmann, Jacques Derrida oder das Anthropozän – die Themen werden sich finden.
Hunde auf See
Seehunde und Kegelrobben vor Juist. Nachdem der Mensch die Tiere in den 1970er-Jahren nahezu ausgerottet hatte, sind die Bestände mittlerweile wieder einigermassen stabil.
Schöne Aussichten
Fotografiert oberhalb von Morcote, Tessin.
Wen der Herr liebt, den züchtigt er,
wie ein Vater seinen Sohn, den er gern hat.Altes Testament
Neulich habe ich von einem Mann gehört, dass er in seiner Schulzeit in der Schweiz noch die Prügelstrafe erlebt hat. Der Mann ist 53. Ich bin nur knapp 10 Jahre jünger, habe aber das Gefühl, in meiner Schulzeit bereits weit, weit von solchen Methoden entfernt gewesen zu sein. Ein Blick ins Netz jedoch zeigt mir, wie wenig lange her das alles ist. Und noch schlimmer: wie schnell und vehement alles wiederkommen kann – was meist daran liegt , dass es nie wirklich weg war:
In den deutschsprachigen Ländern wurde die Prügelstrafe seit den 1970er Jahren zunehmend geächtet und sukzessive abgeschafft. Teils dauerte es aber, wie in Deutschland, noch bis zum Jahr 2000 bis die Prügelstrafe offiziell gesetzlich gestrichen wurde. In der Schweiz sind bis heute nicht etwa Tätlichkeiten gegenüber (Ehe-)partnern und Kindern verboten, sondern lediglich „wiederholte“ Tätlichkeiten.
Das ist aber nur die eine Seite des Problems: Es gibt noch heute viele Länder, in denen die Prügelstrafe nicht nur innerhalb der Familie und der Schule gang und gäbe ist, sondern in denen sie noch dazu ein juristisches Instrument darstellt. Insbesondere gilt dies für arabische Länder bzw. Länder, in denen die Scharia gilt.
Man muss aber keineswegs in diese Gegenden der Welt schauen, um sich über die Rückkehr oder die nie vollständig gelungene Abschaffung der Prügelstrafe Gedanken zu machen. In Amerika gibt es Berichte über ein Aufflackern der Prügelstrafe an Schulen. Und selbstverständlich wollen wir gar nicht erst davon anfangen, über die Todesstrafe in Amerika zu reden… Von Guantanamo und weiteren Ungeheuerlichkeiten ganz zu schweigen.
Religiöse Menschen werden es nicht gerne hören, doch scheint die Prügelstrafe durchaus in Koinzidenz damit zu stehen. Wikipedia: „In christlichen Gesellschaften wurden Kinder traditionell als Wesen angesehen, die leicht der Sünde verfallen konnten. […] Körperstrafen [wurden] in Teilen der Bevölkerung noch bis ins 20. Jahrhundert als „Austreiben des Teufels“ verstanden.“
Für internationale Schlagzeilen sorgte jüngst die Geschichte des Bloggers Raif Badawi, der in Saudi-Arabien für religions- und regimekritische Beiträge mit 10 Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben bestraft werden soll. Zitat Spiegel online: „Weil Badawi islamische Autoritäten beleidigt haben soll und theologische Grundsatzfragen erörterte, wurde er beschuldigt, religiöse Werte angegriffen zu haben. Der Rechtsgelehrte Abd al-Rahman al-Barrak erließ im März 2012 ein Gutachten, in dem er Badawi zu einem Ungläubigen erklärte, „der angeklagt und verurteilt werden muss, wie er es verdient“. Badawi habe Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig bezeichnet – das dürfe nicht ohne Konsequenzen bleiben, forderte Barrak. […] Die Behörden klagten ihn auch an, weil er vom Islam abgefallen sein soll. Darauf steht in Saudi-Arabien die Todesstrafe. Diese Strafe umging er, indem er in der Verhandlung dreimal das islamische Glaubensbekenntnis aussprach und damit bestätigte, Muslim zu sein.“
Im Januar 2015 erhielt Badawi die ersten 50 Stockschläge. Er war danach so schwer verletzt, dass seither – wohl auch aufgrund des hohen internationalen Drucks, und mit Verweis auf ärztliche Gutachten – die Fortsetzung der Strafe immer wieder verschoben wurde. Es ist aktuell unklar, ob Badawi doch noch begnadigt oder möglicherweise zum Tode verurteilt wird. Sein Anwalt sitzt – weil er Badawi verteidigen wollte – übrigens ebenfalls in Haft.
Es braucht immer massive Gegenwehr, um etwas zu ändern. Noch nie hat die Welt, haben die Menschen von Grausamkeiten abgesehen, ohne dass dafür erbittert gekämpft werden musste. Das gilt für die Prügelstrafe wie für das Frauenwahlrecht wie für die Diskriminierung Homosexueller… oder auch für die unglaubliche Gewalt, die wir seit Jahrhunderten und Jahrtausenden gegenüber Tieren anwenden.
Es wird eine Zeit kommen, in der unsere Schlachtfabriken, die Tierversuche, die angeketteten Hunde und die Pelzmäntel als ebenso rückständig und abscheulich gelten wie heute die Prügelstrafe – denn so war es schon bei unzähligen anderen Grausamkeiten der Fall, die Menschen erst erfunden, dann für „ganz natürlich“ sowie für „vollkommen vernünftig“ und „unerlässlich“ erklärt haben, weshalb sie diese über Jahrhunderte hinweg widerspruchlos praktiziert haben. So lange bis genügend Menschen aufstanden und sagten: Das ist falsch.
Seid unbequem,
seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.Günter Eich