Vom Wert des Wissens

Weder ist die Wissensgesellschaft ein Novum noch löst sie die Industriegesellschaft ab. Eher noch läßt sich diagnostizieren, daß die zahlreichen Reformen des Bildungswesens auf eine Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens abzielen, womit die Vorstellungen klassischer Bildungstheorien geradezu in ihr Gegenteil verkehrt werden.

Der flexible Mensch, der, lebenslang lernbereit, seine kognitiven Fähigkeiten den sich rasch wandelnden Märkten zur Disposition stellt, ist nicht einmal mehr eine Karikatur des humanistisch Gebildeten […], sondern dessen krasses Gegenteil. Bei allem, was Menschen heute wissen müssen und wissen können – und das ist nicht wenig! – fehlt diesem Wissen jede synthestisierende Kraft. Es bleibt, was es sein soll: Stückwerk – rasch herstellbar, schnell anzueignen und leicht wieder zu vergessen.

Konrad Paul Liessman
Aus: „Theorie der Unbildung“ (2006)

Im Zeitalter des Internets hat Wissen nicht mehr den selben Stellenwert wie früher: Wenn Wissen jederzeit verfügbar ist, dann ist es nichts mehr wert. Wenn Wissen sich jederzeit angoogeln lässt, ist es nützlich – aber vollkommen sinnlos, welches zu haben. Wenn Wissen keine Anstrengung, keine Mühe, keinen Schweiss mehr kostet, ist es immer und stets parat; nur einen Klick weit entfernt.

Es ist lange und nicht lange her, da war Wissen einmal Macht. Doch Macht ist keine Macht mehr, wenn jeder sie hat. Wenn Wissen allgegenwärtig, allzeit verfügbar, allzeit verbiegbar ist, dann ist Wissen keine Macht, sondern Unterhaltung. Ein Spass für die Gameshow. Das richtige Kreuzchen am richtigen Ort und zur rechten Zeit – so macht Wissen Freude statt Mühe. Verständnis ist nicht länger gefragt – nur auf die richtigen Stichworte kommt es an. Auf das korrekte Branding. Und auf den korrekten Stallgeruch, die richtige Ideologie, auf die Massentauglichkeit.

Das einsame Genie, das seiner Zeit voraus ist? Ist aus der Zeit gefallen. In einen riesigen Topf Wissenssuppe, den jedermann auszulöffeln hat. Wem die Suppe nicht schmeckt – der hat Pech gehabt. Denn ein alternatives Menü ist teuer. Wer ein solches partout haben will, der zahlt einen hohen Preis dafür.

Wissen, so wie es heute verlangt und verhandelt und verkauft wird, verursacht keine Übelkeit mehr, keine Bauchschmerzen, kein Magengrimmen und keine Trostlosigkeit. Wissen wird heute von jedermann an jedermann in einer Weise verabreicht, dass es leicht verdaulich, süsslich, schleimig und in jedem Fall ohne Nebenwirkungen ist. Aufstossen, aufmerken, aufmucken, nachfragen, nachhaken, anzweifeln und bezweifeln – auch und gerade radikal zweifeln im Sinne Descartes – all das, was früher nicht etwa die Begleiterscheinung, sondern vielmehr die Grundvoraussetzung war für eine jede Annäherung an diese grosse, graue Masse, die später vielleicht einmal Wissen genannt werden könnte – ist heute nicht mehr erwünscht. Denn es gilt als mühsam. Als kompliziert. Als rebellisch. Als unsexy. Wir wissen alles, wir können alles. Wer nicht alles weiss – oder vielmehr theoretisch alles wissen könnte -, der war halt zu langsam oder zu faul, um zu googeln.

Wissen wird heute nicht mehr mühsam erarbeitet, sondern ist einfach und immer und jederzeit schon da. In einem totalen System gibt es keine Fragen mehr, sondern nur noch Antworten – und zwar eindeutige, die über jeden Zweifel erhaben sind. Wissen wird nicht länger aufgebaut, sondern verflüssigt. Wissen wird in unserer weiten, in der weltweiten Welt nicht vorbereitet, sondern implementiert. Wissen hat keine Ebenen mehr – es wirft Schatten. Flache Schatten. Keine Räumlichkeit. Keine dritte Dimension. Kein Hintergrund, nur Fläche. Wissen nimmt keinen Platz mehr ein, denn es passt auf eine Stecknadel. Wissen braucht nicht länger einen festen Ort. Es ist ohne Ort. Es ist Utopie.

Wissen entsteht heute nicht mehr aus Zweifel, der in den Ohren piekst, sondern ruht sich aus auf Gewissheit, weich wie Watte. Diese Art Wissen stellt kein Risiko dar –  es ist die totale Sicherheit. Wissen ist nicht mehr gefährlich, sondern komfortabel. Das Wissen, das in dieser Weise Wissen genannt wird, kommt von nirgendwo her. Es geht auch nirgendwo hin. Es taucht auf und verschwindet. Es war da, und ist schon wieder weg. Wenn Wissen aber kein Fundament hat, keine Herkunft, keine Zukunft und keine Geschichte, ist es kein Wissen mehr, sondern Luft.

Luft und Nebel.

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