Bewegung oder Stillstand

Fotografiert am Bodensee, Schweizer Seite

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat auch Religion;
wer jene beiden nicht besitzt,
der habe Religion.

Johann Wolfgang von Goethe

Zum Unterschied zwischen Philosophie und Religion 

Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass Religion und Philosophie als weitgehend deckungsgleich aufgefasst werden. Dieses Missverständnis beruht im Wesentlichen auf zwei Punkten:

1. die gemeinsame Geschichte von Philosophie und Religion bzw. Theologie sowie

2. die stellenweise Überschneidung der Themen bzw. Inhalte.

Vorab einige Begriffsklärungen: Unter Glaube verstehe ich die Annahme, es gebe eine transzendentale Entität, sei diese Vorstellung deistischen Inhalts oder nicht. Unter Religion verstehe ich den institutionalisierten Glauben an diese transzendentale Entität. Theologie (bzw. Religionswissenschaft, um auch atheistische Religionen einzubeziehen) wiederum ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit menschlichen Phänomenen wie Religion und Glauben.

Zu 1: Die gemeinsame Geschichte von Philosophie und Theologie ist unbestritten, sie reicht jedoch nicht weiter als dies auch bei der Philosophie und allen anderen Einzelwissenschaften der Fall ist. Die Philosophie, wörtlich: Liebe zur Weisheit, ist historisch betrachtet nicht eine Disziplin unter vielen, sondern sie ist die Mutter aller Wissenschaften, die Ur-Wissenschaft an sich. Mindestens bis zum Rationalismus, d.h. zum Beginn der Neuzeit, und letztlich bis ins 19. Jahrhundert, in dem es zur endgültigen Aufspaltung der Philosophie in Einzelwissenschaften kam, wurde unter dem Mantel der Philosophie schlichtweg alles verhandelt, was Menschen jemals erdacht, gedacht und bedacht haben – ganz egal, ob dies nun (später genannt) Psychologie, Biologie, Zoologie oder Astronomie und so weiter und so fort war.
Hinzu kommt, dass unter den Philosophen, heute würde man besser sagen: Universalgelehrten, lange Zeit nahezu ausschliesslich Angehörige des Klerus waren – ganz einfach deshalb, weil nur sie Zugang zu Bildung und Schrift hatten, so dass es aus heutiger Sicht so scheint, als seien Philosophie und Theologie auch der Sache nach ineinszusetzen – statt nur der historisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nach.
Tatsächlich gab es jedoch zu allen Zeiten Philosophen, welche die Weisheit liebten, ohne dabei religiös oder theologisch motiviert zu sein. Insbesondere im Zuge der Aufklärung gab es sogar zunehmend Denker, die es mit der „Liebe zur Weisheit“ für überhaupt unvereinbar hielten, an eine transzendentale (1) Entität zu glauben – die also einen Hiatus zwischen Mythos und Logos lokalisierten und dies immer vehementer problematisierten. Spätestens mit der bereits erwähnten Abspaltung in Einzelwissenschaften kam es im Gefolge zur auch formalen, grundlegenden Geschiedenheit von Theologie und Philosophie, und diese ist bis heute der Status quo.

Zu 2: Partielle inhaltliche Überschneidungen zwischen Religion bzw. Theologie und Philosophie sind nicht von der Hand zu weisen, finden sich jedoch in gleicher Weise auch in der Nähe der Philosophie zu anderen Einzelwissenschaften, die aus ihr entstanden sind, wie zum Beispiel Politik(-wissenschaften), Soziologie, Psychologie, Astronomie (Kosmologie), Physik, Biologie und neuerdings zunehmend auch Ethologie und Zoologie.
Eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und Religion bzw. Theologie wird gemeinhin darin verortet, dass sich beide Disziplinen mit den sogenannten grossen Fragen der Menschheit (2) befassen. An diesem Punkt komme ich nun zum Kern meiner Überlegungen: Tatsächlich befassen sich beide Disziplinen zum Teil mit denselben bzw. ähnlichen Fragen, dies ist jedoch nicht das Entscheidende: Die grundlegende Geschiedenheit von Religion und Philosophie liegt nämlich keineswegs in den Fragen oder Themen begründet, sondern vielmehr einzig und allein in der Art ihrer Antworten darauf.
Ich möchte dies näher ausführen: Es gibt seit Längerem eine teils heftige Debatte darüber, ob es eine religiöse und eine säkularisierte Vernunft gibt bzw. ob gläubige Menschen überhaupt für sich in Anspruch nehmen können, „vernünftig“ zu denken (denken zu können), damit gemeint ist in diesem Fall nicht „mystisch“, sondern „rein rational“ zu denken. (3)

Aus meiner Sicht geht diese Debatte jedoch am Kern des Problems vorbei: Seit dem französischen Poststrukturalismus wurde der philosophische Diskurs um einen grundlegenden Aspekt bereichert: nämlich um die fundamentale Kritik am Logozentrismus (4) – für viele Diskursteilnehmer war und ist das bis heute ein Affront, greift diese grundlegende Absage doch ins Zentrum dessen, was für die meisten Menschen das Menschsein ausmacht: nämlich die vollumfängliche Teilhabe des Menschen am Logos, dies in Abwertung zum angeblich rein triebhaften Tier. Ein entsprechend hohes Mass an Verzweiflung, Scham, gekränkter Eitelkeit und Tabuisierungsversuchen umgibt durch alle Jahrhunderte hindurch die so verschmähten, nichtsdestoweniger aber vorhandenen sogenannten, „tierischen“ Anteile des Menschen.
Dies jedoch nur am Rande. Für den vorliegenden Zusammenhang ist Folgendes von Bedeutung: Ob und wie und unter welchen Bedingungen der Mensch vernunftbegabt ist bzw. genauer gesagt: ob und wie und unter welchen Bedingungen den Menschen überhaupt eine so genannt „rein rationale“ Erfahrbarkeit oder auch nur Wahrnehmung der Welt gegeben oder möglich werden könnte, steht immer noch und sogar mehr denn je zur Verhandlung. (Von den Dekonstruktivisten wird dies rundheraus bestritten.)
Die Pointe dabei ist, dass diese Vernunftskepsis gleichermassen für gläubige wie für nichtgläubige Menschen gilt. Das bedeutet: Über die angeblich „unüberwindbare“ Kluft zwischen atheistischen „Vernünftigen“ und religiösen „Un-Vernünftigen“, zwischen Wissenschaft und Glauben, zwischen Logos und Mythos muss, kann und braucht in keiner Weise gestritten werden – denn diese Kluft existiert schlichtweg nicht. Der Logos an sich – genauer gesagt: der Glaube an den Logos – ist vielmehr selbst der Mythos – und zwar der wirkmächtigste überhaupt.
Dies vorausgesetzt, wird der Blick frei dafür, weshalb die Geschiedenheit von Religion bzw. Theologie und Philosophie nicht in der Wahl der Themen bzw. Fragestellungen begründet liegt, sondern vielmehr in der Art der Antworten: Eine atheistische oder agnostische Herangehensweise an die sogenannten grossen Fragen der Menschheit ist wie gesagt per se nicht „vernünftiger“ oder „weniger vernünftig“ als eine religiös motivierte. Sie basieren jedoch auf fundamental unterschiedlichen Annahmen – was zu entsprechend fundamental unterschiedlichen Antworten und Herangehensweisen führt.

Wir hatten eingangs gesagt, dass Glaube die Annahme einer transzendentalen Entität beinhaltet und die Religion die Institutionalisierung des Glaubens ist. Diese Annahme kann, muss aber keineswegs deistisch sein, um folgende wesentlichen Funktionen von Glauben sowie der Institution Religion zu erfüllen: Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz an sich, Sinngebung für den Einzelnen – und dies bedeutet: die Vorstellung einer Aufgehobenheit in einer universalen Struktur, Ordnung, Regelhaftigkeit. Wohingegen sich eine Welt ohne diese Annahme durch das Gegenteil auszeichnet: durch Chaos, Zufall und Sinnlosigkeit.
Von Hannah Arendt stammt der Ausdruck „Denken ohne Geländer“. Denken ohne metaphysisches Geländer meint, auf diese Vorstellung einer Aufgehobenheit und Sinnhaftigkeit in kategorischer Weise zu verzichten – ein radikaler und folgenschwerer Verzicht, der über den religiösen Zweifel in ganz grundlegender Weise hinausgeht.
Es liegt auf der Hand, dass von einem solchen Standpunkt aus in ganz entscheidender Weise anders gedacht werden kann und werden muss als dies der traditionelle Blickpunkt je einfordern könnte. Metaphysikfreies Denken ermöglicht Denkräume, die teils weiter, teils (aus religiöser Sicht) enger, teils versteckt, teils gänzlich unauffindbar und so gut wie immer widersprüchlich, ungeklärt und instabil sind.
Wahrheit, Ewigkeit, Fatum, Determination (für den Einzelnen) und Eschatologie für das Schicksal der Menschheit sind nicht zu haben – die Leibnizsche Vorstellung von der besten aller möglichen Welten zerrinnt in den Händen, je radikaler nachgedacht wird. Und radikal kann dem Wortsinn nach nur dann nachgedacht werden, wenn auf den Grund und Boden, auf die Wurzel (radix) verzichtet wird – wenn dies zumindest versucht wird.
Auf eben diesen ernsthaften Versuch aus dem, kantisch gesprochen, „dogmatischen Schlummer“ zu erwachen, kommt es an, und zwar gilt dies unabhängig von der selbstredend vorliegenden Aporie, die dem Satz „Es gibt keine absolute Wahrheit“ anhaftet, indem er ja in sich den Anspruch trägt, es gebe doch eine absolute Wahrheit (5) Es kommt auf die Ernsthaftigkeit des Versuchs an, den gewohnten, scheinbar sicheren Denkboden verlassen zu wollen – nicht auf die widerspruchsfreie Verwirklichung und Vollendung des Unterfangens.

Solche Aporien sind insbesondere in der Sprachphilosophie bzw. Sprachkritik hinreichend bekannt. Auch hier ist die Richtigkeit der Überlegung vom Auftreten einer Aporie unberührt, sofern dieser Widerspruch nicht übersehen, sondern thematisiert wird. Eben dieser denkerische Bodenverlust, diese Ent-wurzelung aus der Sinnhaftigkeit und Aufgehobenheit verunsichert in einer Weise, die von den meisten Menschen kaum ausgehalten wird. Philosophie bedeutet für mich jedoch genau dies: die Unsicherheit aushalten. Der Verlockung vermeintlicher Sicherheiten widerstehen. Sich um Sicherheit in der Unsicherheit zu bemühen – gerade indem die allgegenwärtige Unsicherheit erkannt und anerkannt wird. Egal wie fruchtbar oder konstruktiv – geschweige denn tröstlich und sinnstiftend – dieser Weg auch sein mag: Entscheidend ist, dass nur so bis an die Grenzen des menschlichen Verstands gedacht werden kann – und dies ist nötig, denn die Grenzen des menschlichen Verstands sind weit enger gesteckt als dies gemeinhin wahrgenommen wird. Und in eben dieser typisch menschlichen Selbstüberschätzung wurzelt viel, wenn nicht gar alles Elend der Welt.
Ich denke, es erhellt nun, weshalb ich ein gemeinsames Unterrichten sowohl von Religion und Philosophie als auch der Fachdidaktik in beiden Disziplinen für wenig hilfreich erachte: Zu grundlegend unterschiedlich sind die Denkumgebungen und -untergründe, auf deren Basis – ob vernünftig oder nicht, tut wenig zur Sache – nachgedacht wird.
Auf diese Weise erhellt, weshalb der Versuch einer Verständigung zwischen Religion und Philosophie in ganz grundlegender Weise von Missverständnissen geprägt ist. Denn es werden Überlegungen von Seiten der Religion allzu schnell und allzu oft als Wertungen eingestuft und mit Kritik verwechselt, wo doch lediglich analysiert, nicht ideologisiert wird. Wenn Glaube dogmatisch gefasst wird, kann der Versuch eines ideologiefreies Denken nicht anders als ebenso dogmatisch aufgefasst werden. Hinzu kommt, dass sich das Denken ganz allgemein aufgrund erheblicher politischer, religiöser und kultureller Konflikte (genauer: einer Verschränkung von all dem) immer stärker in ein Pro- und Contra-Denken verwandelt, in eine Lagerhaltung und Lagerhaftigkeit, welche eine Position des Dazwischen, eine abwägende Einerseits-Andererseits-Grundhaltung verunmöglichen. Stattdessen kommt es zu Reflexen, zu Ping-Pong-Effekten zwischen (vermeintlichen) Polen.
Dem gegenüber steht zurückgedrängt die alternative Denkmöglichkeit, nämlich weder dem einen noch dem anderen Lager anzugehören, weder an den Glauben zu glauben noch an die Religion noch an die Vernunft noch an die Wissenschaft, also das Maximum an Unsicherheit aushalten zu müssen – in einer Welt, die immer unsicherer wird. Und die deshalb nach immer mehr statt weniger Sicherheit im Denken ruft.

Zusammenfassend möchte ich konstruktiv schliessen: Die Kluft zwischen Religion und Philosophie besteht, allerdings nicht in Bezug auf die Frage nach der Vernunftfähigkeit, sondern in Bezug auf das Denkklima und die Denkumgebung, also den Boden, auf dem die Antworten gesucht und gegeben werden. Die Kluft ist insofern noch wesentlich grösser als gedacht, denn es könnte wohl keinen grösseren Unterschied geben zwischen Denkräumen, die grundlegend alles in Zweifel zu ziehen – bis hin zum Boden, auf dem gedacht wird – und den althergebrachten Denkmustern, die keine Räume sind, sondern überhaupt nur Boden bilden; die also dergestalt selbstreferenzielle, man kann sagen: zirkelhafte Denksysteme sind, indem sie den Erhalt, die Sicherheit und die Stabilität des Systems selbst zum Ziel und Zweck haben. Während auf der einen Seite also die Ordnung (5) verwaltet und verteidigt und damit gefestigt wird, hat die andere Seite zum Ziel, die Ordnung(en) im Kern aufzulösen, ihnen ihre Legitimation zu entziehen, um danach vielleicht eine neue Ordnung, bestenfalls aber gar keine Ordnung zu setzen.
Eine Verständigung über all dies ist möglich – jedoch nur unter der Voraussetzung, dass sowohl die Fähigkeit als auch die Bereitschaft zum Denken ohne Geländer gegeben ist, und ein Diskurs auf der Metaebene nicht als zufälliges Nebenprodukt, sondern als eigentlicher Sinn und Zweck der Übung betrachtet wird. Weil das geländerfreie Denken jedoch eine Bedrohung für jegliche Ordnungen darstellt, während gleichzeitig eine allumfassende Sehnsucht nach Ordnungen vorherrscht, ist ein solches Denken so überaus selten.

Fussnoten
(1) Ich verwende den Begriff Transzendenz hier nicht im kantischen Sinn, sondern in der ursprünglichen Bedeutung der Weltjenseitigkeit.
(2) Wo kommen wir her, wo gehen wir hin, was ist der Sinn des Lebens etc.
(3) Vgl. dazu u.a. die entsprechenden Schriften von Jürgen Habermas, Charles Taylor sowie Bertrand Russell und Kurt Flasch (beide unter dem Titel „Warum ich kein Christ bin“) sowie Gert Scobel: Der Ausweg aus dem Fliegenglas. Wie wir Glauben und Vernunft in Einklang bringen können (Frankfurt a.M. 2010).
(4) So insbesondere bei Jacques Derrida.
(5) Vgl. den Begriff der Ordnung bei Bernhard Waldenfels.

One thought on “Bewegung oder Stillstand

  1. Liebe Antje, ich bin Jahrgang 1953, und in meiner Jugend war es fast „normal“, wg. jeder Kleinigkeit verprügelt zu werden. In der Schule und zu Hause sowieso, aber auch Nachbarn oder Wildfremde zeigten sich gewaltbereit bei vielen Gelegenheiten. Ich bin froh, dass sich da einiges getan hat.
    Allmählich bildet sich ein Bewusstsein dafür, dass Gewalt gegenüber Tieren genauso schlimm ist wie gegenüber Menschen. Auch ich bin Strickerin (du kennst mich über Ravelry als Häkelmausplus) und versuche möglichst nur Wolle aus mulesingfreier Haltung zu bekommen, was aber nicht immer einfach ist, da die meisten Firmen selber nicht wissen, woher ihre Wolle kommt. Über die Herkunft geben hauptsächlich Schoppel, Opal, fairalpaka/fairwool und vielleicht noch einige kleinere Hersteller/Händler Auskunft mit dem Hinweis auf Tierschutz. Ich denke, da kann man als Verbraucher nur etwas erreichen, wenn man die bevozugt, gleichzeitig aber z.B. bei Stricktreffen oder beim Einkauf immer wieder die Mulesingproblematik anspricht.
    Liebe Grüße
    Monika

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